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Thomas F. Dapp: „Big Data ist kein Allheilmittel, aber jeder ist betroffen.“

Branche, Unternehmen und Geschäftsmodelle sind heute von den Umwälzungen digitaler Technologien betroffen. Big Data ist heute überall, meint Thomas F. Dapp, Senior Economist bei Deutsche Bank Research. Er referiert beim Big Data-Kongress des Raiffeisenverbandes.

In allen Wirtschaftszweigen nimmt die Relevanz web-basierter Technologien stetig zu. Dabei werden Unmengen an Daten generiert. Dieses wachsende Datenvolumen wird mehr und mehr zum Wettbewerbsvorteil bzw. zum volkswirtschaftlichen Produktionsfaktor. Die Nutzung personenbezogener Daten hat einen ökonomischen Wert und weckt bei vielen Marktteilnehmern Begehrlichkeiten mit unterschiedlichem Interesse.

Herr Dapp, was versteht man unter Big Data?

Thomas F. Dapp: Bei Big Data geht es darum, unterschiedliche Datenmengen und -typen mit neuen Datensätzen zu kombinieren, eventuelle Muster in diesen kumulierten Daten mit intelligenten Softwareprogrammen, sogenannten Algorithmen aufzuspüren, um anschließend die richtigen und möglichst lukrativen Schlüsse aus den Ergebnissen zu ziehen. Somit ist es beispielsweise heute möglich, dass Kreditkartenfirmen aus einzelnen Transaktionen ihrer Kunden vorhersagen können, bei wem eventuell Ehekrisen bevorstehen. Oder: die GPS-Ortung mobiler Endgeräte kann in Kombination mit der Auswertung von Micro-Blogging-Diensten drohende Epidemien in nahezu Echtzeit vorhersagen, dadurch verhindern oder zumindest abmildern.

Viele Unternehmen tun sich schwer mit der Digitalisierung. Was sind Bremsfaktoren und wie können sie überwunden werden?

Unternehmen, denen es früh gelingt, ihre vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsnetze möglichst umfassend zu digitalisieren, bilden die notwendige Basis für die künftige Nutzung algorithmen- basierter Datenanalysen. Um den Einsatz von Big-Data-Technologien voranzutreiben, müssten viele Unternehmen jetzt damit beginnen, ihre Prozesse und Geschäftsmodelle neu zu definieren und zu strukturieren. Experten schätzen, dass heute nur  15% aller weltweit verfügbaren Daten strukturiert und ca. 85% unstrukturiert sind, d.h. ein Großteil des Datenvorkommens eines traditionellen Unternehmens ist ebenfalls unstrukturiert.
Um dem steigenden Wachstum von Daten und den modernen algorithmen-basierten Analysemethoden gerecht zu werden, müssen traditionelle Unternehmen in einem ersten Schritt sämtliche unterschiedlichen Datentypen harmonisieren, d.h. maschinenlesbar machen.
Nur dann kommen die modernen Analysemethoden, wie sie in der Big Data-Diskussion vielerorts beschrieben werden, zu ihrer viel gepriesenen Entfaltung. Hiervon sind viele traditionelle Unternehmen und Banken allerdings weit entfernt.

Wie ist die Veränderung durch Big Data in Wirtschaft und Gesellschaft heute schon spürbar?

Die Wirkungen des Internets mit all seinen zu begrüßenden effizienz- und produktivitätserhöhenden technologischen Errungenschaften werden von vielen nach wie vor gerne unterschätzt. Denn in unserer Datenökonomie wird der künftige Umgang mit algorithmen-basierten Analysen sowohl unser Verständnis von Datennutzung, unsere Art des Miteinanders als auch unsere künftige Wertschöpfung in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen grundlegend verändern. Ebenfalls unterschätzt werden die negativen Auswirkungen auf eine Volkswirtschaft, die aus unverhältnismäßigen Datensammelaktivitäten diverser privatwirtschaftlicher und staatlicher Akteure resultieren. Die mit den steigenden Datensammelaktivitäten einhergehenden Risiken wie z.B. der Verlust der immateriellen Selbstbestimmung werden gerne ausgeblendet. Insbesondere in die selbstlernenden Algorithmen zur Reduzierung von Komplexitäten oder zur Erstellung von Berechenbarkeitsanalysen werden hohe Erwartungen gesteckt. Dahinterliegende Interessen, Machtverhältnisse, ethische und moralische Gesichtspunkte, Kontrolle, Rechte und Pflichten spielen, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle.

Was bedeutet Big Data für die Landwirtschaft?

Mir fallen in der Tat keine Branche, kein Unternehmen und kein Geschäftsmodell ein, welches nicht von den Umwälzungen digitaler Technologien betroffen ist. Algorithmen-basierte Datenauswertung findet u.a. im Onlinemarketing, in der Finanzbranche, der Logistik, im Gesundheitswesen, im Vertrieb, aber auch in der Agrarwirtschaft oder der Automobilindustrie statt. Klassisches Beispiel im Finanzsektor sind sogenannte Robo-Advisors. Sie unterstützen Berater bei ihrer Arbeit, oder agieren bereits vollkommen autonom. Via Algorithmen werden über wenige Fragen Risikobereitschaft, finanzielle Lage und Anlagebedürfnisse des Kunden so ermittelt, dass anschließend komplexe Anlagestrategien mit verschiedenen Finanzmarktprodukten angeboten werden können. Das Thema Internet der Dinge bietet weitere Entwicklungsfortschritte: So verspricht z.B. vernetzte und digitale Agrartechnik Effizienzsteigerungen und sinkende Kosten innerhalb kompletter Wertschöpfungsnetze. GPS-gesteuerte Landmaschinen, Feldroboter, Echtzeitdaten zur Wetterlage in Kombination mit landwirtschaftlichen Flächen- und Bodenanalysen und sogar der Einsatz von Drohnen werden mehr und mehr zum Alltag auf High-tech Bauernhöfen. Durch die Ansammlung der entstehenden Daten entlang der vernetzten Elemente kann zudem permanent und in Echtzeit reagiert bzw. optimiert werden. Die voranschreitende Automatisierung ist freilich kein neuartiges Phänomen, wird allerdings durch die ökonomischen Kräfte hinter der Digitalisierung beschleunigt.

Vor allem der Banken- und Finanzsektor wird von der Digitalisierung gebeutelt. Wie zeigt sich hier der „Status quo“?

Traditionelle Banken sind gut beraten, jetzt digitale und algorithmen-basierte Datenanalyse-Instrumente einzusetzen. Nur so können sie ihren Kunden künftig personalisierte Finanzdienste und Empfehlungen anbieten und ihre internen Prozesse permanent optimieren. Sollten sie dagegen zögern, werden die neu in den Markt eintretenden technologiegetriebenen Nicht-Banken ihren Informationsvorsprung weiter ausbauen. Banken kennen die Verhaltensmuster wie Zahlungsverhalten, Konsumverhalten, Spar- und Investitionsneigung, Risikoaversion, Reisevorlieben, etc. ihrer Kunden. Daher bietet es sich an, dass sie dieselben Datenauswertungs-Strategien anwenden wie die großen Internetplattformen, um ihren Kunden ebenfalls aus einer Hand möglichst viele wertvolle Zusatzdienste rund um ihre Finanzen anzubieten.

Hat die digitale Datenauswertung auch irgendwelche Grenzen?

Mit den modernen Technologien und Methoden im Bereich Big Data eröffnen sich den Akteuren sicherlich neue Wege, bestehende Datenmodelle und Szenarien beispielsweise mit Echtzeit-Daten anzureichern, um somit aussagekräftigere Ergebnisse zu erlangen und bestenfalls Trends zu prognostizieren. Allerdings bewirkt Big Data auch keine Wunder, denn die Gesetze der Statistik lassen sich auch aufgrund der Fülle neuer Datenkorrelationen nicht aushebeln. Nur weil datengetriebene Analysen plötzlich mit neuen, bisher ungeahnten quantifizierbaren Datensätzen angereichert werden können, sind die Ergebnisse nicht objektiver als in der Analysezeit vor Big Data, d.h. trotz der zunehmenden Quantifizierbarkeit menschlicher Handlungen, trotz der neuen maschinenlesbaren Kaufpräferenzen oder Gefühlsäußerungen der Menschen werden keine zwangsläufigen Tatsachen geschaffen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich von Datensätzen aus dem Bereich sozialer Netzwerke.

Big Data ist also kein Allheilmittel. Angesichts der ökonomischen Treiber im digitalen Zeitalter, wie Netzwerk- und Skaleneffekte, Peer-to-peer-Mechanismen oder das Thema „Internet der Dinge“ bergen intelligente Technologien zwar ein enormes Entfaltungspotenzial. Intelligente Algorithmen oder kognitive Systeme werden uns Menschen aber sicherlich nicht vollends ersetzen, sondern in zahlreichen Bereichen ergänzen und uns zu Produktivitätserhöhungen verhelfen. Der „Kollege Algorithmus“ kann sich z.B. nicht in Frage stellen und selbstreflektierend eigene Abläufe im Bedarfsfall anpassen. Hierfür und für viele andere Beispiele auch werden weiterhin menschliche Kompetenzen und Erfahrungen benötigt.