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Von Malfèr: "Den Bock zum Gärtner gemacht“

Martin von Malfér, Volkswirt und Börsenspezialist für die Raiffeisen Geldorganisation in Bozen, im Interview über die aktuellen Themen aus Wirtschaft und Politik: Überschuldung der Zentralstaaten, Globalisierung und Populismus.

Raiffeisen Nachrichten: Das Thema der Überschuldung der gesamten Wirtschaft wird derzeit auf höchster Ebene diskutiert. Wie schätzen Sie diese Situation ein?

Martin von Malfér: Die Staats-, Privat- und Firmenverschuldung war eines der wichtigsten Themen am Weltwirtschaftsforum 2017 in Davos. Auf 217.000 Milliarden US-Dollar beziehungsweise 325 Prozent des Welt-BIP wird das heutige Schuldenniveau in der Welt geschätzt. Im Euroraum sieht es mit 470 Prozent zum BIP sogar noch schlimmer aus. Die Schuldenproblematik und das weltweite Ungleichgewicht in der Verteilung von Reichtum gelten als Hauptgründe der Schwierigkeiten, die wir derzeit auf der Welt haben: Populismus oder das Gefühl großer Gesellschaftsschichten, dass sie in die Verarmung rutschen ...

Wie ist es zu dieser Situation gekommen?

Martin von Malfér: Der kausale Zusammenhang all dieser Themen wird vielfach verkannt. Die Ursachen liegen meistens darin, dass einer globalen, immer vernetzten Wirtschaft, in der Kapital, Information und Menschen grenzenlos bewegt werden, die global denkt und global agiert, ein unzureichendes, allzu lokal aufgestelltes politisches System gegenübersteht. Systembedingt denken Politiker nur kurzfristig und blenden gerne globale langfristige Kräfte aus, da sie diese entweder nicht verstehen oder meinen nicht beeinflussen zu können. Interessant erscheint, dass das Wahlvolk gerade jenen Versuchen der Politik, globalen Problemen nun global zu begegnen, indem die internationale Kooperation über den G20 oder aber Staatenunionen wie die EU konzertiert werden sollte, besonders kritisch gegenübersteht. Das zeigt, dass Globalisierung neuerdings in vielen Bevölkerungsschichten nicht als Bereicherung, sondern als Gefahr wahrgenommen wird. Dabei freut sich jeder über billige Fernseher, Autos oder Gemüse auch im Winter. Dass einige Aspekte der Globalisierung problematisch sind, ist nicht von der Hand zu weisen, dass man nun aber das Kind mit dem Bade ausschütten will, ähnelt dem Versuch, Autos abzuschaffen, da manche Leute damit verunfallt sind.

Welche Aspekte der Globalisierung sind falsch gelaufen?

Martin von Malfèr: Das größte Problem der Globalisierung ist, dass sie zu immer größeren Unternehmen geführt hat, welche die Politik vorführen und offensichtlich nur mehr der Gewinnmaximierung ohne soziale Grundausrichtung verschrieben sind. Die Ursachen dafür sind im neoliberalen Raubtierkapitalismus seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu suchen; Politiker, wie Ronald Reagan und Margareth Thatcher hatten diesen weltweit hoffähig gemacht, auch wenn die Krisen des 21. Jahrhunderts gezeigt haben, dass dieser gebändigt werden muss. Dass nun extremistische, systemkritische Parteien wie die UKIP in England, der Front National in Frankreich, die fünf Sterne Bewegung in Italien u.a. heute bewusst zu Realitätsverweigerung greifen, und nun nicht das System, das 70 Jahre die internationale Zusammen geregelt hat, korrigieren wollen, sondern ganz abschaffen, grenzt an eine Entschlossenheit zur Selbstverstümmelung. Wie die Wähler diesen kurz gedachten Parteiprogrammen aufsitzen können, ist Stoff für eine psychologische Dissertation. Aber vielleicht sind Menschen einfach nur empfänglich für einfach dargelegte Lösungen auf komplexe Sachverhalte, auch wenn diese grundsätzlich falsch sind.

Sie spielen damit auf Brexit oder Trump an?

Martin von Malfér: Genau. Das was beispielsweise derzeit in Großbritannien abläuft ist geradezu grotesk. Da haben Scharfmacher mit Lügen und Fehlinformationen ein Referendum gewonnen, das wieder Grenzen in Europa errichten soll. Gleichzeitig interpretiert die Premierministerin May den Ausgang des Brexit Referendums so um, dass Großbritannien hierdurch globaler werden soll, so als ob die EU ein Hort des Protektionismus gewesen wäre. Ich würde aber die Pro-Brexit Abstimmung, genauso wie die Wahl Trumps, generell eher als einen Aufschrei gegen die Globalisierung interpretieren oder als Aufschrei gegen das undefinierbare "politische" Establishment, das als Sündenbock für all das, was wirklich oder vermeintlich falsch läuft in der Welt, gilt. Dass Globalisierung aber an der Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten die Hauptschuld tragen soll, ist einfach ein Irrglaube. Das Beispiel Deutschland zeigt, dass es nur am jeweiligen Wirtschafts- und Verwaltungsgefüge eines Landes liegt, was es aus der Globalisierung macht. Je korrupter ein Land, je schlechter die Gesetze, die Verwaltung und die Rechtsprechung, desto eher befindet sich das Land auf der Verliererseite, und zwar unabhängig davon, ob es an der Globalisierung teilnimmt oder nicht.

Kehren wir zu den Global Players zurück. Welche Rolle spielen diese am derzeitigen politischen "Scherbenhaufen"?

Martin von Malfér: Eine ganz wesentliche. Es ist altbekannt, dass die großen sogenannten Global Players im Grunde keine Heimat besitzen und Arbeitsplätze genauso wie Kapital und Know-How über die Grenzen hinweg verschieben, und zwar unabhängig davon, ob es "politische Hindernisse gibt oder nicht". Daran ist nichts Verwerfliches, da hierdurch vielleicht das Streben nach Effizienz und klugen Gesetzen gesteigert wird. Wenn diese Unternehmen aber beginnen, sich überall über den Gesetzen zu wähnen, glauben Gesetze selbst schreiben oder wie in den USA politische Parteien gar mit Wahlbeihilfen kaufen zu dürfen, wenn sie alles daran setzen, auf legale Weise über Patentboxen und Holdingsstrukturen Steuern zu hinterziehen und den kleinen Laden vor Ort, der allein den Sozialstaat stemmen muss, mit Dumpingpreisen an die Wand drücken, dann läuft etwas falsch. Die soziale Verantwortung von heutigen Großunternehmen, wie Amazon, Starbucks, Apple und Amazon, aber auch Wall-Mart und andere Großhändler ist wirklich erschreckend gering.

Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?

Martin von Malfér: Erstens müssen die großen Firmen ihren gerechten Anteil am Steueraufkommen tragen, das bedeutet, dass Steuerparadiese oder Steuervermeidungsmodelle, an denen auch europäische Staaten wie die Niederlande, Großbritannien, Luxemburg und lange Zeit Irland aktiv mitwirkten, endlich ein Ende finden müssen. Viele Firmen weltweit haben schlecht versteuertes Geld in Steuerparadiesen wie den Cayman- oder Jungferninseln gebunkert, allein Apple 200 Milliarden US-Dollar, Pfizer knapp 194 Milliarden und Microsoft über 100 Milliarden. All diese Unternehmen hatten es bisher vorgezogen, Schulden aufzunehmen, um ihre Aktionäre mit Dividenden bei Laune zu halten, anstatt die Gewinne ordentlich versteuert zu repatriieren, und damit ihrer sozialen Verantwortung in den Ländern, in denen ihre Umsätze generiert werden, gerecht zu werden. Trump wird diesen Firmen nun wohl die kostenlose Repatriierung der kaum versteuerten Gewinne aus dem Ausland ermöglichen, nachdem Obama eine international konzertierte Kehrtwende versuchte.

Die europäische Wettbewerbskommissarin, Margrethe Vestager aus Dänemark steht heute nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten und dem anstehenden Brexit mit ihrer Bekämpfung von Transferpricing- und Patentbox-Modellen wohl alleine da. Mit diesen wurden Gewinne stets dorthin verfrachtet, wo sie am geringsten versteuert waren, und Kosten dorthin, wo die Steuern am höchsten waren. Dass Vestager mit diesem Kampf in sehr vielen Vorstandsetagen großer Unternehmen nicht viel Sympathie erntet, ist selbstredend. Und lassen wir uns überraschen, wie Trump erst darauf reagiert, wenn amerikanische Unternehmen in Europa zur Kasse gebeten werden.

Aber auch auf einzelstaatlicher Ebene bedarf es besser funktionierender Wettbewerbsbehörden. Diese sollten sich weniger mit den "kleinen Raiffeisenkassen" auseinandersetzen, sondern vielmehr mit den großen Konglomeraten, Oligopolen und Monopolen. Ein Blick nach Deutschland genügt: dort liegt die gesamte Nahversorgung in der Hand von drei bis vier Anbietern, das ist eine Machtballung, die dem Markt längerfristig nicht gut tun kann. Und je mehr Machtballung es gibt, desto weniger hat die Politik zu sagen, dessen müssen wir uns auch bewusst sein, da diese mit der Androhung von Arbeitsplatzvernichtung stets am Band geführt wird.

Ein weiteres Thema ist der technische Fortschritt...

Martin von Malfèr: Wir stehen an der Schwelle einer weiteren technischen Revolution. Ich nenne sie die fünfte industrielle Revolution der Geschichte. Fast 80 Prozent der gesamten Jobverluste in den Vereinigten Staaten der letzten zehn Jahre sind durch den technologischen Fortschritts erfolgt, und nicht, wie von Trump gemutmaßt, durch die Globalisierung. Heute sind ganze Prozesse computergesteuert und von Robotern ausgeführt. Der technische Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Das zeigt auch eine Studie von McKinsey aus dem Vorjahr. Demnach sind wir jetzt auf dem Punkt, wo die Automatisierung bereits zur größten Arbeitsplatzvernichterin absolut mutiert ist. Selbstfahrende Autos, künstliche Intelligenz usw. sind nur einige der wichtigsten Stichwörter, die mir dazu einfallen. Erstmals sind auch besser qualifizierte Jobs durch die Technisierung bedroht. Damit stellt sich aber der Mensch in Konkurrenz zur Robotik. Und der Kampf wird wohl über die Kosten, sprich Gehälter, entschieden.

Wie können Staaten die Staatsverschulung in den Griff bekommen?

Martin von Malfér: Dazu gibt es viele Ideen: die Abschaffung des Bargeldes ist angedacht, wodurch die Schwarzwirtschaft merklich eingedämmt und somit das Steueraufkommen gesteigert werden soll; dadurch würde der Abbau der Staatsverschuldung ermöglicht. Auch eine durch die Notenbank induzierte Hyperinflation, die den Wert der Staatsverschuldung merklich verringern sollte, wird angedacht, aber diese ist in einer globalen Welt nur schwerlich erreichbar. Steigen die Preise, beispielsweise in Italien zu stark an, ist durch die offenen Grenzen die Konkurrenz aus dem Ausland nicht aufzuhalten. Nur bei Schließung des internationalen Warenhandels würden durch die heute erreichte Spezialisierung in der Produktion einzelner Länder einige der Produkte im Land Mangelware und die Preise würden wieder ansteigen. Denken wir nur daran, wie stark in Italien die Preise von Handies oder Fernseher explodieren würden, würden diese Waren nicht mehr importiert werden können. Viele europäische Länder würden im Extremfall sogar zur Mangelwirtschaft überwechseln. Ein Blick nach Venezuela zeigt, wie eine solche aussieht. Festigt sich der Inflationsgedanken aber erst in den Köpfen der Menschen, werden auch leichter Lohnerhöhungen genehmigt, und Arbeitnehmer geben auch wieder leichter ihr Geld aus. Dann läuft das Rad. Da wir aber in einer offenen Welt leben, wird dieses Szenario nicht möglich sein.

Eine weitere Idee besteht darin, dass die Notenbank, die in vielen westlichen Ländern einen großen Anteil an den Staatsanleihen ihr Eigen nennt, auf ihre Forderungen gegenüber der Zentralregierung verzichtet. Dadurch würde allerdings Geldmenge zerstört, was zwischenzeitlich zu einer enormen Deflation führen würde. Sieht man von den Nebeneffekten einer solchen ab, könnten Staatsanleihen durch das bald schon nachfließende Finanzkapital aus dem Ausland zu Mangelware werden.

Der Vorschlag macht Sinn und die Machbarkeit dieser Variante wird relativ hoch eingeschätzt. Letztlich wird auch das Szenario eines geordneten oder auch ungeordneten Staatsbankrotts "durchexerziert". Aber das Beispiel Argentiniens zeigt, dass dies zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch führt. In Argentinien stiegen die Arbeitslosenziffern zwischenzeitlich aufgrund des Staatsbankrotts 2001 auf über 35 Prozent. Letztlich geht es um die Schaffung einer gerechteren Welt, wo auch der Mittelstand seinen Platz findet. Derzeit sind zu viele Gewinne und viel Vermögen in zu wenigen Händen konzentriert. Die Gewinne der amerikanischen Unternehmen liegen derzeit bei 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das ist ein Niveau, das es das letzte Mal vor der großen Krise in den 30er Jahren in den USA gab. Dagegen muss etwas getan werden, damit es wieder zu einem Ausgleich der Interessen, aber auch einem System kommt, wo der Konsument auch in Zukunft noch über genügend Geld verfügt, um die von den Konglomeraten feilgebotenen Waren auch zu kaufen.

In Amerika wird es allerdings schwieriger werden. Mit Trump hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Und sofern es nicht zu einem Amtsenthebungsverfahren wegen zu großer Interessenkonflikte kommt, ist Trump am Ende seiner Präsidentschaft wohl noch ein Stück reicher, als bereits heute, während der durchschnittliche Amerikaner wohl noch ärmer geworden ist, als vor der Wahl.

Vielen Dank für das Gespräch!