Zahlreiche Kompetenzen im internationalen Textil-Netzwerk stammen aus Südtirol: die Konservierung von historischen Geweben, das Wissen über Naturtextilien wie Hanf und Leinen. "Diese Textilien kamen schon immer in der Region vor und werden derzeit intensiv erforscht", betont Vill, der selbst Experte für Leinenstoffe ist. Die Expertise zu Trachtenhistorie und den daraus resultierenden Nebensparten, wie beispielsweise die Federkielstickerei, kommen ebenfalls aus Südtirol.
Textilarchitektur, ein Zukunftsfeld
Die Textilarchitektur hingegen ist ein relativ neuer Zweig im Textilbereich. Ihr Ursprung geht auf die Entwicklung des Olympiadaches von München im Jahr 1972 zurück. Das aus mineralischen Fasern hergestellte geschwungene Dach war das erste Projekt seiner Art. Mittlerweile hat sich die Textilarchitektur, vor allem in den nördlichen Ländern, wie Schweden, Norwegen und Russland aber auch in Frankreich, Belgien, Deutschland und Österreich, weiterentwickelt. Der große Vorteil von textilen Konstruktionen ist ihre Nachhaltigkeit: sie können jederzeit auf- und abgebaut und weiter verwendet werden. "Sie sind auch ästhetisch schön", findet Tomedi. In Italien sei dieser Zweig jedoch noch kaum ausgeprägt. Vill: "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass italienische Architekten nicht einmal wissen, was Textilarchitektur ist." Mit der Integration der Textilarchitektur hat die Genossenschaft ihre Möglichkeiten beträchtlich erweitert.
Ruf nach transparenter Zertifizierung
Ein großes, langfristiges Ziel, der Europäischen Textilakademie ist die Entwicklung eines transparenten, europäischen Zertifizierungssystems für Textilien. Daran arbeitet die Akademie bereits seit zwei Jahren. Vill sagt dazu: "Derzeit gibt es eine Vielzahl von Zertifizierungen, die jedoch alle etwas ausblenden. Viele Dinge bleiben für Konsumenten nicht nachvollziehbar", ist Vill überzeugt. So fehlten meist die Angaben über die Art der verwendeten Fasern, der Stoffbehandlung und -produktion, Informationen über verwendete Herbizide, Pestizide, Färbemittel oder Angaben zum Ursprung des Rohmaterials, den zurückgelegten Transportwegen oder Hinweise zu Kinderarbeit. Außerdem gäbe es bisher noch keine Zertifizierung, die den CO2-Ausstoß mitberücksichtigt. Und genau das möchte die Europäische Textilakademie auf europäischer Ebene erreichen und damit einen wesentlichen Betrag zu Textilökologie leisten.
"Wir müssen endlich unterscheiden lernen zwischen Kostenwirklichkeit und Kostenwahrheit", betont Vill. "Wir wissen mittlerweile, dass wenn ich bei H&M ein T-Shirt um 9,50 Euro kaufe ist das zwar die Kostenwahrheit für mich, aber es entspricht nicht der Kostenwirklichkeit, die vielleicht 13,70 Euro beträgt. Die Differenz zwischen der Kostenwahrheit und der Kostenwirklichkeit bezahlt immer jemand. Ob das nun die Kinder sind, die das produzieren, oder die gesundheitlichen Schäden, die irgendwann in Rechnung kommen."
Im Laufe des Interviews wird eines schnell klar: das Textilwesen ist komplex, in mehrfacher Hinsicht, denn auch die Erforschung von neuen Textilien und Fasern ist noch lange nicht abgeschlossen. Vill zufolge werden derzeit lediglich fünf Prozent der möglichen Naturfasern genützt. Dies macht die Arbeit der Europäischen Textilakademie spannend, denn auch an neuen Tätigkeitsfeldern wird es in Zukunft nicht fehlen.
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