Raiffeisen Nachrichten: Wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich mit „ermutigender Führung raus aus dem Jammertal“ auseinandersetzen?
Margit Schäfer: Tja, das eine ist die Folge des anderen. Das Jammertal – also das ständige Jammern über die eigene Situation - ist tatsächlich ein Phänomen, das überall zu beobachten ist, nicht nur in Organisationen der Sozial- und Gesundheitsbereiche, sondern in unserer Gesellschaft allgemein. Zudem habe ich in vielen Coachings, vor allem im Altenpflegebereich, erlebt, dass es für Führungskräfte ein großes Thema ist, weil sie beim ständigen Jammern an ihre Grenzen stoßen. Ich habe dann begonnen, mir die Gründe für das Jammern anzuschauen, und mich gefragt, wie Führungskräfte Menschen aus diesem Jammertal herausführen können.
Und welche Antworten haben Sie heute?
Dazu braucht es nicht nur den Willen der Führungskräfte, sondern auch den der Mitarbeitenden. Ermutigende Führung kann einen Weg aufzeigen. Sie lädt dazu ein, gemeinsam Herausforderungen zu meistern und ist gleichzeitig offen für Kritik, Verbesserungsvorschläge sowie die Potenziale und Expertise der Mitarbeitenden. Die Frage ist auch, ob jene Personen, die Ziele erreichen sollen, als Individuen wahrgenommen werden oder nur als Arbeitskraft bzw. Kostenfaktor.
Wie ist es denn überhaupt dazu gekommen, dass so viele Menschen im Sozial- und Gesundheitsbereich jammern?
Ich denke, das hat mit der Tradition der Berufe zu tun. Menschen in Betreuungs- und Pflegeberufen kamen sehr lange aus dem Ehrenamt und den Klöstern, wo die Haltung des Dienens stark verankert war. In den letzten Jahrzehnten hat es jedoch einen enormen Professionalisierungsschub in Pflege- und Gesundheitsberufen gegeben. Die gewonnene Kompetenz und Expertise vieler Fachkräfte wird jedoch noch nicht überall ausreichend anerkannt. Es geht nicht nur darum etwas gerne zu tun, es geht darum, dass er oder sie mit Engagement arbeitet und hohe Expertise erworben hat. Da ist Lebenszeit investiert worden und selbstverständlich haben die Mitarbeitenden ein Recht auf eine entsprechende Entlohnung.
Da gibt es mancherorts sicherlich Aufholpotenzial...
Was viele Menschen in Gesundheitsberufen noch lernen müssen, ist ein selbstbewusstes und souveränes Auftreten, besonders Frauen. Was wiederum bedeutet, dass sie selbst Verantwortung übernehmen müssen. Das eine geht nicht ohne das andere.
Welche Strategien können Sie Menschen in sozialen Berufen mitgeben?
Es müssen Stellschrauben auf mehreren Ebenen bedient werden. Häufig höre ich den Ruf nach Wertschätzung, fast schon wie ein Kampfruf: „Wir wollen Wertschätzung!“ Natürlich gehört auch finanzielle Anerkennung dazu. Doch primär geht es um „Beachte uns“, „Nimm uns wahr und anerkenne uns“. Mitarbeitende wünschen sich, dass ihnen auf Augenhöhe begegnet wird. Dafür sind jedoch ein selbstbewusstes und sachliches Auftreten, fundierte Argumente sowie evidenzbasierte Belege erforderlich – besonders in der Pflege.
D.h. diesen Schritt müssen die Menschen, die in den sozialen Berufen arbeiten selbst machen?
Ja, sie müssen ihn gehen, aber es muss ihnen auch die Möglichkeit dazu gegeben werden. Ich habe viele Menschen erlebt, die selbstbewusst und auf Augenhöhe aufgetreten sind, aber dennoch klein gemacht wurden und irgendwann resignierten. Genau hier setzt ermutigende Führung an: Führungskräfte begegnen Mitarbeitenden nicht hierarchisch von oben nach unten, sondern auf Augenhöhe, angepasst an Kompetenzen und Ausbildung, aber immer respektvoll.
Und das macht den großen Unterschied aus?
Ja freilich, weil diese Selbst-Reflexivität auch Selbst-Fürsorge bedeutet: sich nicht krank machen zu lassen und nicht ins Jammertal abzurutschen. Jammern ist fast wie ein Virus: es macht auf Dauer krank, unglücklich und zieht die Mundwinkel nach unten.
Damit ist niemand geholfen. Es soll sich also auf allen Ebenen was ändern?
Genau. Es reicht nicht, nur von oben Veränderungen zu fordern. Führungskräfte können viel lernen, aber die Bewegung muss auch von unten kommen. Menschen, die scheinbar im Jammertal sind, müssen mitgehen. Es ist nicht allein die Aufgabe der Führungskraft, das Team herauszuziehen. Beide Bewegungen zusammen schaffen die gewünschte Augenhöhe.
Welche besonderen Herausforderungen erleben die Fachkräfte in sozialen Berufen?
Das ist ein vielfältiges Thema, das sich u.a. auf Organisationen bezieht. Allerdings sind auch die Ansprüche der Klientinnen und Klienten und der Angehörigen gestiegen. Das merkt man im Altenpflegebereich deutlich. Die Herausforderungen haben auf mehreren Ebenen zugenommen. Ein Faktor ist die Zeit, denn viele Personen, die im Sozial- und Gesundheitsbereich arbeiten sind kompetent, engagiert und möchten gerne Gutes tun. Sie erleben jedoch, dass von ihnen ein striktes Tempo verlangt wird und sie nur noch wenige Minuten pro Person haben. Dadurch werden die betreuten Menschen in ihren Bedürfnissen eingeschränkt – und gleichzeitig schadet diese Überlastung auch den Mitarbeitenden selbst. Menschen lassen sich nicht reduzieren auf Aufgaben oder Handlungsschritte und schon gar nicht auf kleinteilige Handlungsschritte, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu absolvieren sind. Und wenn hier nicht Zeitpuffer mitberücksichtigt werden, damit die Fachkräfte ihrem Engagement auch gerecht werden, dann drängen sie sich selbst und auch das Gegenüber. Und das tut niemandem gut. Wir bilden seit Jahren Fachkräfte im Sozial- und Gesundheitsbereich aus, die gehalten und gesund erhalten werden sollten. Da die Zahl der nachrückenden jungen Menschen zurückgeht, ist es für Organisationen heute besonders wichtig, ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen.
Warum ist die psychische Gesundheit von Mitarbeiter*innen gerade in sozialen Berufen so zentral?
Wenn Menschen mit Menschen arbeiten, menschelt es. Dieser Human Touch kann niemals durch KI und Robotik ersetzt werden. Pflegeroboter können manches abdecken, aber den menschlichen Kontakt nicht. Wenn wir krank sind und auf Hilfe angewiesen sind, wollen wir menschliche Wärme spüren und Menschen in die Augen sehen.
Welche Maßnahmen halten Sie für wirksam, um diese Menschlichkeit zu erhalten?
Es ist eine Frage der Dimensionen. Meiner Ansicht nach werden KI, Robotik und ähnliche Technologien derzeit stark überdimensioniert betrachtet. Komplementär können sie durchaus wirken, ich denke da zum Beispiel an die Telemedizin, die durchaus im Sinne der Patient*innen sein kann: Man hat schnell eine Fachperson am Tablet und kann Fragen stellen und muss sich nicht weit bewegen. Aber es muss im Dienste des Menschen sein. Momentan diskutieren wir sehr viel über KI als ERSATZ und nicht als Zusatz. Auf viele technische Errungenschaften wollen wir alle nicht mehr verzichten, weil es komfortabel ist. Aber die Frage ist schon, ob KI als Zusatz oder als Ersatz gesehen wird. Dies macht den Unterschied. Im Moment werden die technischen Errungenschaften oft noch als Ersatz für die menschliche Arbeitskraft gesehen.
Sie kommen am 17. Oktober nach Bozen als Referentin zum Tag der Sozialgenossenschaften. Was dürfen die Teilnehmer*innen erwarten von Ihrem Vortrag:
Viele Anregungen für Diskussionen.
Auch Best Practice-Modelle?
Ja, es gibt Organisationen, die ermutigende Führung gut umsetzen. Sie haben oft Wartelisten für Bewerbende, weil das Arbeitsklima stimmt. Diese Organisationen fordern nicht weniger Leistung und zahlen nicht unbedingt mehr, aber sie machen vieles richtig sowohl im Team als auch in der Führung. Angesichts des Fachkräftemangels ist dies entscheidend. Die Babyboomer waren oft loyal und unbeweglich, die jüngeren Generationen sind mobiler und anspruchsvoller. Führungskräfte müssen genau hinschauen, welche Personen ins Team passen und welche nicht. Teamarbeit funktioniert nur, wenn alle am gleichen Strang ziehen. Führung kann vieles in die Wege leiten, aber das Team muss mitziehen – die Verantwortung liegt nicht allein bei der Führungskraft.
Ein abschließender Gedanke zum Welttag der psychischen Gesundheit oder einen abschließenden persönlichen Wunsch für den sozialen Bereich?
"Psychische Gesundheit ist ja nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten kann. Psychische Gesundheit ist aber kein Dauerzustand, sondern ein Balanceakt, um den man sich ständig bemühen muss - nicht nur privat, sondern auch am Arbeitsplatz und insbesondere Fachkräfte in Sozial- und Gesundheitsorganisationen. Dafür braucht es Maßnahmen, die der Arbeitgeber anbieten sollte - und die von den Mitarbeitenden auch in Anspruch genommen werden sollten, nach dem Motto: "Wer für andere sorgt, muss sich auch um sich kümmern, damit man weiterhin für andere sorgen kann."
Vielen Dank für das Gespräch!

