Die Roaner Lernfreunde

In Sarns bei Brixen gibt es einen Bauernhof, der seit Herbst 2019 als Lernumgebung für hochsensible Kinder genutzt wird. Der siebenjährige Max* lernt hier alles, was auch in der Regelschule vermittelt wird. Die einzigen Unterschiede sind die Umgebung und die Lernmaterialien.

Max* besucht seit November 2019 jeden Tag den Bauernhof von Sabine und Klaus Mader. Hier geht er zur Schule, weil er Probleme hat, dem Unterricht in einer gewöhnlichen Klasse zu folgen. Denn Max ist hochsensibel. Wie andere hochsensible Kinder hat er keine Beeinträchtigung, nur spürt er bis zu 40 Mal mehr, riecht, schmeckt und hört intensiver als andere Kinder. Dementsprechend intensiv erlebt er den Unterricht in einer Regelklasse mit 20 Schülern.

Ein normaler Schulalltag ist für hochsensible Kinder voller überwältigender Eindrücke und bedeutet Stress. Sie fühlen sich bedroht und reagieren mit Angst, Wutausbrüchen oder Rückzug. Hinzu kommt, dass diese Kinder oft an einer Lese-Rechtschreibschwäche leiden und gleichzeitig sehr ehrgeizig sind und keine Fehler machen wollen. Auch das erzeugt Stress.

Sabine und Klaus Mader hatten schon länger nach einem 2. Standbein für ihren landwirtschaftlichen Betrieb gesucht. Der Vorschlag der Waldorfschule kam da gerade recht: „Vor einem Jahr hat uns die Schule kontaktiert, weil sie ein hochsensibles Kind mit Problemen in der 1. Klasse hatten“, erinnert sich Sabine Mader und meint weiter: „Michael Harslem aus Deutschland, Berater der Waldorfschule, ist auf hochsensible Kinder spezialisiert und war von Anfang an davon überzeugt, dass das Kind auf einem Bauernhof beschult werden könnte.“ Und so nahm die Zusammenarbeit ihren Anfang, zunächst in Form eines Pilotprojektes und mit der Unterstützung von Michael Harslem und seinem Sohn Jojo, der selbst hochsensibel ist. Beide unterstützen Sabine und Klaus auch heute noch.

Schätzungen zufolge gibt es in der westlichen Gesellschaft rund 20 Prozent hochsensible Kinder, in Ländern wie Afrika wesentlich mehr. Jojo Harslem: „Hochsensibilität hat unterschiedliche Ausprägungen und daher kann man nicht alle Kinder in den gleichen Topf werfen. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie besonders gut an sinnerfüllten Tätigkeiten lernen, von denen es auf einem Bauernhof besonders viele gibt.“ Jojo kommt einmal im Monat an den Roaner Hof. Hier finden vor allem Kinder, die in der Klasse unkontrollierte Wutausbrüche haben, verweigern, um sich schlagen oder sich zurückziehen eine ideale Lernumgebung. Sabine Mader: „Bei uns auf dem Bauernhof gibt es keine Einschränkungen, keine Wände, daher können starke Emotionen wie Wut ausgelebt werden.“ Auch Lernmaterialien gibt es genug: Tierfüße, Apfelsaftflaschen, die Fläche der Terrasse, die einen neuen Boden erhalten soll oder den umgefüllten Inhalt eines Wasserfass.

Wortspiele oder Zahlentraining lassen sich ganz einfach in die praktische Arbeit integrieren. Am Plan für die Reparatur der Terrasse konnten vor kurzem die Grundlagen der Geometrie erarbeitet werden. Selbst das Erlernen einer Zweitsprache erfolgt nebenbei. Klaus Mader: „Ich habe gestaunt, wie schnell Max* das Italienische aufgeschnappt hat, als ich mit italienischen landwirtschaftlichen Mitarbeitern gesprochen habe.“ Die Arbeit mit den Kindern fasziniert den Landwirt: „Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit, und bin froh diesen Kindern eine Perspektive geben zu können.“

Der Unterricht am Bauernhof beginnt um halb 9 und ist strukturiert. Ruhepausen und Abwechslung zwischen Kopf- und Handarbeit sind für hochsensible Kinder besonders wichtig. Klaus Mader: „Am Morgen kommen die Kinder an den Lernort. In Stallstiefel und warmen Jacken füttern wir zunächst die Tiere, wechseln das Wasser und schauen, ob es allen gut geht. Dann gibt es ein gemeinsames zweites Frühstück und es stehen andere Arbeiten an. In der letzten Woche haben wir beispielsweise den Garten aufgeräumt, abgeerntet und Stöcke rausgezogen.“ Immer sind es Arbeiten, die im Jahresverlauf anfallen: Pflanzen setzen, Bäume schneiden, Holz für die Stückholzheizung holen, Kirschen, Äpfel oder Kartoffeln ernten. Schon bald werden die ersten Christbäume geschnitten.

Am Ende des Schuljahres wird der Lernerfolg überprüft. Im Idealfall zeigen hochsensible Kinder, dass sie von sich aus lernen wollen, und bereit sind wieder in die Schule zurückzukehren. Sabine Mader: „Die Voraussetzung dafür ist, dass sie lernen mit ihren Stärken und Schwächen umzugehen, um wieder in der normalen Struktur zu arbeiten. Daher ist die Lernzielkontrolle wichtig. Die Waldorfschule ist für eine Rückführung ideal, das geht aber theoretisch auch mit jeder anderen Schule in Südtirol. Es kann sein, dass es ein bis vier Jahre dauert, bis Schüler bereit sind, wieder an „normalem Unterricht“ teilzunehmen“, betont Sabine Mader.

Der siebenjährige Max* fühlt sich mittlerweile in seiner neuen Lernumgebung wohl. Den Abschluss der ersten Klasse hat er mühelos geschafft. Seine Eltern mussten sich erst daran gewöhnen, dass ihr Sohn auf einen Bauernhof zur Schule geht. Heute sind sie froh über die derzeitige Eins-zu-eins-Betreuung am Bauernhof.

Im Laufe des Jahres sollen weitere Kinder aufgenommen werden. „Das Interesse von Seiten der Eltern ist da“, sagt Sabine Mader. Bis Anfang des neuen Jahres möchten das Team vom Roaner Hof auf vier Kinder pro Lernbegleiter erweitern. Und später mit insgesamt 15 Kindern auf dem Hof arbeiten. Wichtig ist dabei, dass die Kinder untereinander gut miteinander können. Denn eine stressfreie Umgebung ist die Voraussetzung für eine gelingende Lernerfahrung. Ob die Coronakrise weitere Aufnahmen bremsen wird, ist noch offen.

Mit der Gründung einer Sozialgenossenschaft Typ A für soziale Landwirtschaft gaben Klaus und Sabine Mader dem Pilotprojekt einen soliden gesetzlichen Rahmen und ihrem Bauernhof eine soziale Dimension. Bisher ist es das einzige Projekt für hochsensible Kinder in Südtirol: „Vielleicht sogar in ganz Italien“, meint Sabine Mader. Ähnliche Projekte gibt es nur noch in der Schweiz, Deutschland und Österreich.

 

*Name von der Redaktion geändert